Was tun, wenn die Selbstfürsorge fehlt?

Frau liegt mit dem Rücken in einer Wiese

Die Resonanz auf einen Wochenimpuls, in dem es um die – oft missverstandene und unterschätzte – Selbstfürsorge ging, hat mich wirklich umgehauen. Schließlich geht dieser wöchentliche Impuls an Menschen, die bereits für das Thema sensibilisiert sind. Was so unscheinbar an unserem Wohlbefinden, unserer Gesundheit und der Qualität unserer Beziehungen nagt, wird oft erst bei genauerem Hinsehen deutlich.

In diesem Impuls geht es nicht um das Wellness-Wochenende, den Männerabend oder die Yogastunde – auch wenn sich all diese Aktivitäten sicherlich positiv auf das Wohlbefinden auswirken.

Es geht um die vielen kleinen Dinge, die wir uns – meist unbewusst – mit den besten Absichten (an)tun oder unterlassen.

Die Bereitschaft, unsere (Frei)Zeit zu opfern

Der Anlass, dieses Thema aufzugreifen, war eine dieser kleinen „unscheinbaren“ Grenzen, die ich mir selbst gesetzt hatte und die ich beinahe – fast unbemerkt – selbst überschritten hätte.

Ich hatte schon vor Wochen beschlossen, keine Klienten mehr anzunehmen, als eine telefonische Anfrage für ein Coaching kam. Trotz meines Aufnahmestopps hörte ich mir die Geschichte in aller Ruhe an, stellte Fragen und machte mir Notizen. Man weiß ja nie!

Die Person war sympathisch, der Fall interessant und obwohl schnell klar war, dass sich das Thema über einen längeren Zeitraum hinziehen würde, sprühte ich vor Ideen und hatte bereits einen Plan im Kopf, wie ich vorgehen würde. Ich versprach, mir Gedanken zu machen und am nächsten Tag eine Antwort zu schicken.

Allein für den Schritt, mich nicht spontan zu entscheiden, hatte ich jahrelang trainiert und klopfe mir dafür im Nachhinein immer noch auf die Schulter.

Der Blick in meinen Kalender war ernüchternd. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, einen Teil der Arbeit in den geplanten Urlaub mitzunehmen und ein paar Pufferzeiten zu verplanen, die „eigentlich“ unantastbar sind. Zum Glück war meine Vernunft nicht vollends abwesend, denn ich erinnerte mich daran, dass es die vielen unvorhergesehenen Dinge sind, die Stress verursachen.

Fast hätte ich sie über Bord geworfen, weil ich so gerne „ja“ zu dem Fall gesagt hätte. Heute bin ich erleichtert, dass ich diesen sympathischen Fall an meine geschätzten Coaching-Kollegen verwiesen habe. 

Dieses Ereignis hat mir gezeigt, wie leicht man in Fallen tappen kann, die man längst aus dem Weg geräumt glaubte. Hinter dem Wunsch diese Anfrage anzunehmen, verbirgt sich ein altes Muster, welches in einem unachtsamen Moment schnell wieder aktiv wird – egal, wie gut wir uns selbst kennen, wie lange wir schon daran arbeiten und wie viele Bücher wir zu dem Thema gelesen haben.

Sich hintenanstellen

Was bringt uns dazu, unsere eigenen Bedürfnisse nach Urlaub, Erholung und Entspannung zurückzustellen? Warum neigen wir dazu, mehr Fürsorge für andere aufzubringen als für uns selbst? Was versprechen wir uns davon?

Wir hängen in alten Mustern fest, die uns immer wieder in die Bredouille bringen, weil sie uns nicht bewusst sind.

Hinzu kommt, dass wir vieles überschätzen: die Zeit, die uns zur Verfügung steht, die Schnelligkeit, mit der wir etwas erledigen und den reibungslosen Ablauf. Vor allem aber, überschätzen wir den Nutzen, den wir aus diesen alten Mustern ziehen.

Im Grunde genommen handelt es sich nur innere Programme, die sich so gut eingespielt haben, dass sie zu einer Art Eigenschaft geworden sind. Sie sind ein Teil von uns. Würden wir sie ablegen, könnte dies in unserem Umfeld für einige Irritationen sorgen.

Manche dieser Muster sind uns dienlich, andere nicht. Stressverursachende Muster halten uns oft davon ab, uns um unsere eigenen Bedürfnisse zu kümmern. Um sie abzulegen, brauchen wir die Erkenntnis, Aufmerksamkeit und Ausdauer.

Es wird auch nicht ohne Anstrengung gehen, denn ein funktionierendes System wird sich nicht freiwillig ändern. Um eine Veränderung mit wenig Widerstand zu erreichen, ist es wichtig, sich mit erfolgversprechenden Strategien zu befassen und sich auch der möglichen Konsequenzen bewusst zu sein.

Wenn wir noch nicht bereit dafür sind, aus einem alten Programm auszusteigen, werden wir Gründe dafür finden. Die am häufigsten genannten Gründe sind: keine Zeit, keine Energie oder das Umfeld lässt es nicht zu. Wenn das bei dir der Fall ist, dann ist es vielleicht noch nicht der richtige Zeitpunkt. Wenn doch, dann findest du hier vielleicht einen guten Anfang für eine gesunde Selbstfürsorge.

Der Ruf der Selbstfürsorge

Mangelnde Selbstfürsorge kann uns krank machen und tut es nachweislich.

Gabor Maté, ein international renommierter Arzt und Experte für die Themen Sucht, Stress und kindliche Entwicklung, geht in seinem neuen Buch „Der Mythos der Normalität“ unter anderem der Frage nach, warum in einer Gesellschaft, die mehr denn je von Gesundheit besessen ist, so viele Menschen krank sind. 

Seine These ist, dass immer mehr Menschen sich selbst unterdrücken, um falsche Erwartungen an eine „Normalität“ zu erfüllen, die die Gesellschaft an sie stellt. Ich finde, den Satz darf man gerne zweimal lesen.

Der Gedanke, dass die Gesellschaft mitverantwortlich dafür ist, dass wir uns selbst unterdrücken, hat mich anfangs eingeschüchtert. Sich gegen die Gesellschaft zu stellen, klingt nach einer Herkulesaufgabe.

Aber vielleicht ist es auch gar nicht so schlimm? Wir haben die Wahl, die Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen und uns in die Opferrolle zu begeben oder uns von den Erwartungen ein Stück weit zu distanzieren. Schließlich sind wir ein Teil der Gesellschaft und gestalten sie durch unser Verhalten mit.

Was ist „Normalität“? 

Erwartungen prägen uns von frühester Kindheit an, und je nachdem, in welchem Umfeld wir aufwachsen, eignen wir uns Verhaltensmuster an, die uns in diesem Umfeld Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. 

Diese Verhaltensmuster sind das Ergebnis der Erziehung, die in der Familie vollzogen wird, in Institutionen und sogar in Märchen und Geschichten. Die Grundlagen für diese Muster liegen weit zurück – meist in der frühen Kindheit.

Es sind also alte Glaubenssätze und Antreiber, die uns zu unserem Verhalten treiben. Eine Vielzahl psychologischer Studien versucht herauszufinden, welche Ursachen zu welchen Antreibern führen und welche Strategien einen gesunden Umgang damit ermöglichen.

Es gibt Menschen, die den Antreiber „Sei perfekt“ entwickelt haben, weil sie in ihrer Kindheit nur durch Glanzleistungen zuverlässig Anerkennung und Liebe bekamen. Andere haben gelernt, dass sie sicher und behütet sind, wenn sie sich früh an die Bedürfnisse anderer anpassen. Unbewusst bemühen sie sich heute noch, es jedem recht zu machen. Was immer uns – aus kindlicher Sicht – die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Erwachsenen eingebracht hat, hat uns geprägt.

Es gibt noch ein paar weitere Antreiber, aber darum soll es heute nicht gehen. 

Wenn wir nach einem Muster „funktionieren“, sind wir automatisch bereit, unsere Bedürfnisse zu unterdrücken. Wir opfern unsere Selbstfürsorge für die Anerkennung und Wertschätzung von außen. Und nach einer Weile haben wir uns so weit von uns selbst entfernt, dass wir es gar nicht mehr gut mit uns aushalten können.

Wenn wir uns selbst nicht mehr aushalten

Was tun wir dann?

Wir betäuben uns! Das funktioniert bei einem Netflix-Serienmarathon, beim endlosen Scrollen durch die sozialen Medien oder wir dämpfen den inneren Stress mit Alkohol, Drogen und exzessiven Aktivitäten. Das ist alles andere als eine gesunde Selbstfürsorge.

Das kann so weit gehen, dass wir die Fähigkeit verlieren, einfach mal nichts zu tun und uns dabei gut zu fühlen. Im Yogaunterricht kann man das gut beobachten, wenn Anfänger in einer Ruhephase total unruhig werden und bis in die Haarspitzen angespannt sind. 

Die Unruhe ist zu ihrem „Normalzustand“ geworden und es wird Zeit, dass wir langsam wieder zu einer gesunden Normalität zurückfinden. 

Sich selbst genug sein 

Wenn wir uns selbst immer hintenanstellen, zeigen wir uns selbst keine Wertschätzung und ignorieren die Signale unseres Körpers und unserer Seele.

Das kann gut gehen, aber es kann auch sehr schnell kippen, und dann braucht es nur ein unerwartetes Ereignis, um uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

Die gute Nachricht ist, dass wir wieder lernen können, bei uns selbst zu bleiben. Es gibt verschiedene Wege nach innen – Yoga, Meditation, Journaling oder einfach nur das regelmäßig wahrnehmen, was gerade ist.

Das klingt nicht spektakulär und ist es auch nicht.

Viele finden es anfangs sogar als langweilig und können sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ihnen das Sitzen, Atmen, Schreiben und Schweigen bringen soll. Vertraue den Weisen, schau dir wissenschaftliche Studien an oder mache deine eigenen Erfahrungen.

Durch deine individuelle Praxis kannst du dir selbst die Aufmerksamkeit und Wertschätzung geben, nach der dich sehnst – bewusst oder unbewusst.

Ballast abwerfen und neue Strategien entwickeln

Aber Vorsicht! Wir können nicht beliebig viele Übungen in einen vollen Tag quetschen – so sinnvoll sie auch sein mögen. Natürlich muss man sich Freiräume schaffen – am besten, indem man sich von destruktiven Aktivitäten trennt.

Den Tag mit einer guten Morgenroutine zu starten, ist für mich die beste Wahl überhaupt. Wenn wir uns dafür entscheiden, eine Stunde früher aufzustehen, müssen wir auch bereit sein, abends eine Stunde früher schlafen zu gehen. Sonst überziehen wir nur unser Konto.

Die Routine selbst kann sehr individuell sein. Der feste Rahmen ist jedoch wichtig. Feste Zeit, fester Ort und feste Dauer.

Wenn du Interesse an einer Morgenroutine hast, schau dir meinen Kurs an, der dir helfen wird, deine ganz persönliche Morgenroutine zu finden.

Die kleinste Morgenroutine der Welt

Du kannst aber auch sofort mit einer kleinen Routine starten, die so kurz ist, dass wir einfach nicht Nein sagen können.

Lege eine feste Zeit fest, zu der du dich jeden Tag mit dir selbst verabredest. Wähle für den Anfang eine wirklich kurze Verabredung – eine Minute ist ein guter Start.

Erinnere dich daran, dass dies eine Minute der Selbstfürsorge ist, in der du dir deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkst.

Spüre in dieser Minute deinen Atem, deinen Körper, die Berührung mit der Sitzunterlage, die Luft. Nimm wahr, was dich umgibt – Geräusche, Gerüche, Wärme, Kälte bis hin zum Treiben im Kopf. Lass die Gedanken zu, aber geh nicht mit. Wenn du abgelenkt bist und es merkst, sage dir: „Ich bleibe bei mir, komme, was da wolle.“ 

Mit der Zeit wirst du die Morgenroutine vielleicht noch etwas ausdehnen, wenn du merkst, wie gut diese Stille tut, in der du ganz bei dir sein kannst – vollkommen entspannt und in Frieden mit dir und der Welt. Ein wunderbarer Akt der Selbstfürsorge.

Fazit

Auch wenn Achtsamkeit und Selbstfürsorge in den Medien hoch und runter gespielt werden und viele wissenschaftliche Studien zeigen, welche Methoden funktionieren, ist es für viele leider immer noch reine Theorie.

Verhaltensweisen, die wir über Jahrzehnte gepflegt haben, sind tief in uns verankert und räumen nicht so einfach das Feld. Wenn wir unachtsam sind, übernehmen sie blitzschnell die Führung. Je besser wir uns selbst kennen und je bewusster wir im Augenblick sind, desto weniger lassen wir uns von diesen alten Mustern steuern. Dabei ist ein wichtiger Schritt, sich selbst die notwendige Fürsorge zu schenken, die wir uns von anderen wünschen.

Mit einer guten Morgenroutine können wir uns jeden Tag daran erinnern, dass Achtsamkeit und Selbstfürsorge nicht geschenkt werden. Wir müssen sie uns selbst schenken und das können wir mit etwas Übung Tag für Tag aufs Neue tun.

Alles Liebe
Gabriele von attention.rocks

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